Du sollst nicht langweilen. Billy Wilders elftes Gebot. Der Autorin von „Komplett Gänsehaut“ versteht sich als Satirikerin. Ich las die Beschreibungen „manische Bewerterin“, die „einfach wunderbar schreiben“ kann. Da ist viel dran. Ob Jimi Hendrix eine „universale Musik“ vorhatte, woran er wegen Beitritt in den Club 27 scheiterte … Oder ob vom Clubmitglied Janis Joplin das Bild des traurigen Stars bleibt, dem keiner „unter das T-Shirt“ will, geschenkt. Beides stellt Anspruch und Scheitern dar. Was komisch wie heilig aussieht. Und prompt twittere Sophie Passman (gestern) „Vollste Solidarität mit allen Peinlichen“. Wenn dieses Buch kein Hohelied auf „jede mögliche“ Peinlichkeit ist, welches dann?
„Wer sechzehn ist, will leben wie ein Dichter und sterben wie ein Held“, heißt es in dem Lied. „Die Stadt, in der man siebenundzwanzig Jahre alt wird, ist die Stadt, in der man plötzlich keine Angst mehr vor Taxifahrern hat, weil man jedes mögliche Gespräch mit einem Taxifahrer schon mal geführt hat“, schreibt die Autorin. Zwei Seiten später tuckert der Motor: „Ich bleibe dabei: Es geht immer um das, was fehlt.“ (GK:147)
Dieses Gefühl ist der rote Faden. Dabei ist ihr Blick auf „jedes mögliche“ Alltagserlebnis so wohltemperiert spitzzüngig, dass man ihr gern die Haltung abnimmt: „Ich weiß das. Ich weiß die meisten Sachen, ich lege aber selten Wert drauf.“ Soweit jedenfalls zum Anspruch.
Die Form des Scheitern beginnt mit einem ruckartigen „ach, achso, scheiße“. (GK:9) Darauf ereilt einen das Schicksal, nur noch „so zu tu, als wüsste man, was das Leben ist.“ (GK:10) Die Autorin schreibt gegen diese „Frühverspießerung“ mit bewundernswertem Witz an.
Vor dem Komplettversagen der Boomer, zu denen sich der Rezensent zählen muss, wird im Prolog ausdrücklich gewarnt, vor dem Scheitern im Menschlichen unserer „allgemeinen“ Ansprüche und dass wir Missbrauch mit unseren Talenten begehen. Denn wer ein Talent nicht gebraucht, missbraucht es, wusste treffsicher Christian Morgenstern. Die sanfte Revolution von 1989 als erfolgreichste politische Umwälzung aller Zeiten war nie mehr Thema. 1994, im Geburtsjahr der Autorin, war in Deutschland alles Westen. Der epochale Begriff vom „neuen Menschen“ hat viel Blut im Schuh. Heute ist er ein unbelastetes Versatzstück, das hier und da selbstsatirisch eingepflegt wird. Gut so.
Bei Thomas Mann, Jahrgang 1875, speziell seinem Roman „Der Zauberberg“ aber kommt „rasende Eifersucht“ (KG:30) auf. Dies wiederum geschieht, weil der Nobelpreisträger des Jahres 1929 noch immer etwas heraufbeschwört, selbst in der Generation der in den 1990er Jahren Geborenen. Nämlich diesen „unbändige[n] Glaube[n] daran, dass man selbst so geil darauf ist, dass man tausend Seiten über einen schlechten Kurort schreiben kann und die Leute das lesen wollen.“ Der Stachel sitzt und in diesem Sinne sehe ich dieses nach allem, was recht ist, gelungene Buch auch als Übungsheft für Größeres. Vielleicht liegt in zehn Jahren Sophie Passmanns Zauberberg vor. Ich habe „Komplett Gänsehaut“ sehr gern gelesen.
Axel Reitel