reciproque#4.2 // Sophie Passmann_Komplett Gänsehaut

Sie sprintet durch ihr Storyboard und lässt den Leser zeitweise beinahe atemlos zurück. Das liegt in erster Linie an ihrer recht unkonventionellen Interpunktion und wäre ihre Lektorin nicht an der ein oder anderen Stelle vehement genug gewesen, enthielte Komplett Gänsehaut vermutlich überhaupt no points. 

Sophie Passmann macht das aber eigentlich ganz gut, wenngleich die Schachtelsatz-Interpunktion sonst Meistern wie Thomas Mann vorbehalten ist. Den stellt sie zu Beginn ihrer Erzählung für seinen Zauberberg erstmal hübsch in die Ecke der alten weißen Männer. Und macht sich damit vorübergehend unbeliebt bei jenen Lesern, die nicht nur auf kurzweiligen Popliteratur-Spaß aus sind, sondern auf Substanz zu hoffen pflegen. Doch dann ist ihre Sicht auf die Dinge am Ende einfach zu charmant. Spätestens dann, wenn Passmann sich selbst zusammen mit ihrer ganzen Generation aufs Korn nimmt und über die habituellen Attituden des gesamten Spektrums unserer Gesellschaft herzieht. 

Das grenzt in einigen Passagen an die Symptomatik einer handfesten Depression, klärt sich umseitig aber wieder in illustre Selbstironie. Überhaupt ist es der Sprachwitz der Autorin, der sie durchaus lesenswert macht. Wenn Sibylle Berg klappentextlich resultiert, dass es ein „prima Buch [sei] das … hier und heute nicht langweilt“, dann hat sie recht damit. Das hier ist keine Weltliteratur (wie der Zauberberg), aber: dieser Anspruch bestand höchstvermutlich nie. 

Passmann feiert währenddessen Seite für Seite den literarischen Eklektizismus und bedient sich mit ihren Schilderungen mikroskopischer Verhaltensdetails dem Max Goldt’schen Sprachwitz: „wir schauen ihn mit diesem antrainierten Pseudo-Respekt an, den normalerweise nur CDU-Politiker können, wenn in Talkshow eine Pflege- oder Putzkraft aus dem Publikum in einem Wortbeitrag mal Klartext redet …“ Auch die herrlichen Attribuierungen mit überraschenden Adjektiven machen das Buch en Gros zu einer wirklichen Freude: Bei Passmann können Gäste auch schonmal „sozialdemokratisch vorm Kühlschrank stehen“, wenn es darum geht, dort neben Kuhmilch ethisch korrekte Hafermilch zu finden. Und für ihre sachliche Beleidigung des ad absurdum geführten Hipstertums der Nuller-Jahre muss man sie einfach gern haben, denn es ist tatsächlich so, „als wäre Ästhetik durch Ironie ersetzt worden“.

So liefert Passmann alles in allem zwar keine neuen Erkenntnisse, aber sie gibt den Beobachtungen brauchbare Begriffe. Und sie schafft es, die Milieus unserer Gesellschaft in ihrer eben doch nicht so unerschöpflichen Diversität psychogrammatisch zu persiflieren. Herausgekommen ist dabei eine Dystopie über den seelischen Zustand ihrer neofeministischen Generation mit jeder Menge deprimiertem Spaß. Und das ist in jedem Fall hochunterhaltsam.

Jenny V. Wirschky