reciproque#5.1 // Jörg Magenau_Die kanadische Nacht

„Kein Grün, nirgends.“

Jörg Magenau ist wohlbekannt als erfolgreicher Literaturkritiker, Essayist und Biograf. Der Rezensent gesteht nicht ohne Dankbarkeit ein Magenau-Zitat in einem eigenen Aufsatz über Siegfried Lenz. Der Vater-Sohn-Konflikt in Lenz‘ Roman „Deutschstunde“ ist bekannt. Dabei geht es auch um das Infragestellen von Autorität. Der Sohn rückt von den Prinzipien des Vaters ab, sie sind für ihn nicht tragbar.

In der kanadischen Nacht folgt der „vaterferne“ Protagonist dem Ruf des sterbenden Vaters, der vor etlicher Zeit dorthin auswanderte. Worin besteht diese „Vaterferne“? Dem Konfliktpotenzial angemessen fährt er ihm auf dem wintergrauen Highway 1 zwischen trostlosen Landschaften und „unermesslichen Weiden“ entgegen. Und welche Story wird abgegrast?

Zunächst ringt der Erzähler on the road mit drei Erfahrungssträngen. Nach zweijähriger Arbeit scheiterte eine Auftragsbiografie. Zu groß war das Unbehagen der Malerin über das gezeichnete Bild ihres gezeitigten Dichtergatten. Weiter haben wir das „Wahnhafte und Wehrhafte“ der Liebe im Leben der Mutter, das dem Vater des Erzählers „fremd“ war. Ihre sich verändernden Wesenszüge nach einer Herz-Operation. Die Einsetzende Faszination für das Esoterische. Ihre Absicht, die letzten Jahre nochmal „aufs Ganze zu gehen“. Das mündet im Rauswurf durch den Vater und von da in die Schlacht der Anwälte. Im Ziel,  „dem anderen Schmerz zuzufügen“. Drittens seine Liebe zu und mit A. Eine Heidegger-Expertin mit äußerst fürsorglichen Familienambitionen, die seine „Vaterferne“ nicht versteht. Er hatte eine Ehe hinter sich, in der beide Seiten Rückblicke auf die eigene Familie vermieden. Mit A. hat er jetzt ein Kind, für das wichtig ist, was war.

Das Ringen um das Wie – die Eckpunkte einheitlich zusammenbringen – ist der Grat, auf dem der Autor seine Bahn zieht. Wobei er in einen Widerspruch gerät. Zwar frönte er der Annahme, dass nichts außer dem Aufgeschriebenen, dem Historischen, bleibt. Darauf philosophiert er, dass „nichts von dem, was wir erleben“, im „Geschriebenen“ aufgeht.  Nachvollziehbarerweise  gingen in der „Nacht“ seine eigenen Lebensereignisse nicht auf. Wie und ob der Autor diesen Knoten löst, ist ein spannendes Unterfangen. Mitunter betulich, mitunter köstlich, an „Stoff genug“, was zwischen allen geschieht.  Im Mittelpunkt steht die Zukunft mit A. für die er das Aufgepackte aufzuklären bereits ist.

Und wie sieht es mit dem titelnden Zitat aus? Kein Grün – keine Hoffnung – nirgends? Es ist gutmöglich die tragende Metapher. In Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ besprechen Heinrich von Kleist und Karoline von Gründerode die Möglichkeiten zu leben oder aus dem Leben zu streben. Wie der Vater, wie die Mutter, wie die verlorene Ehe, wie der verlorene Auftrag. Wie das verlorene Ringen berühmter Geistesgrößen von Hölderlin bis C.G. Jung, die der Erzähler auf seiner Reise durch die kanadische Nacht beschwört.

Axel Reitel